Mein Samstag mit Little Annie
Es scheint unwahrscheinlich, dass Little Annie und ich jemals beste Freunde werden. Vor zweieinhalb Jahren lernte ich sie das erste Mal kennen, an einem Julitag in einem Seminarraum, der durch die glühend heiße Sommersonne total überhitzt war.
Little Annie hat keine Arme und keinen Unterleib, sie spricht nicht und ihr Geruch erinnert stark an Kunststoff. Trotz ihrer Einschränkungen beschäftigte sich jeder Teilnehmer und jede Teilnehmerin des Seminars intensiv mit ihr.
Gestern hatte ich dann ein Wiedersehen mit Annie. Obwohl ich mich darauf nicht besonders freute.
Mein Wiedersehen mit Little Annie
Ich konnte mich nicht länger drücken: Die alle zwei Jahre fällige Ersthelferausbildung stand wieder auf der Agenda. Ich hatte sie bis zur letzten Minute hinausgeschoben und musste schließlich einen Termin bei MAUS Karlsruhe in der Erbprinzenstraße wahrnehmen. Was das Kürzel MAUS bedeutet, weiß ich nicht genau – wahrscheinlich etwas mit Medizin und Ausbildung. Ich werde es nachreichen, sobald ich es herausgefunden habe.
Missgelaunt machte ich mich an einem regnerischen Februartag 2020 zu Fuß auf den Weg zum Schulungsraum, der nur etwa 1000 Meter von meiner Wohnung entfernt lag. Ich kam absichtlich 20 Minuten vor Kursbeginn an, um einen Platz möglichst weit weg vom Kursleiter zu ergattern. Doch dieser Plan ging gründlich schief – andere hatten dieselbe Idee. Im gebildeten Halbkreis waren nur noch Plätze am Ende des Kreises verfügbar, also in der Nähe des Kursleiters.
Ich grüßte freundlich in die Runde und nahm die Dame, die bereits Sehtests bei einer Teilnehmerin durchführte, als vermeintliche Kursleiterin wahr. Sie grüßte freundlich zurück, und ich war erleichtert, dass sie einen sympathischen Eindruck machte.
Kaum hatte ich Platz genommen und einen Blick durch den Raum geworfen, sah ich sie auch schon liegen: “Little Annie”, unbekleidet auf einer Silbermatte – mein erstes Wiedersehen nach fast 1000 Tagen.
“Hallo ich bin Katalin …”
Und los geht’s – der Kurs beginnt. “Stört es jemanden, wenn ich euch duze?” fragt Katalin, unsere Kursleiterin. “Nein, stört nicht”, antworte ich. Die überwiegende Mehrheit der Teilnehmer gehörte zur U30-Generation, und mit meinen 55 Jahren war ich wohl der älteste von allen. Etwa ein Drittel der Gruppe waren Fahranfänger, die kurz vor ihrer Fahrprüfung standen, ein weiteres Drittel waren Mitarbeiterinnen eines Kindergartens in Weingarten – einem Ort nahe Karlsruhe – und das letzte Drittel bestand aus Leuten wie mir, die ihre Kenntnisse auffrischen mussten.
Trotzdem war die Stimmung gut, die Gruppe hatte etwas, und Katalin war eine sympathische Kursleiterin. Sie stellte sich als Jurastudentin aus Heidelberg vor und verdiente sich bei MAUS wohl ein paar zusätzliche Euros dazu.
Mein anfänglicher Missmut legte sich etwas. Die Gruppe passte – die nächsten acht Stunden würden also einigermaßen entspannt vorübergehen. Und ich war mir sicher, dass wir bestimmt eine Stunde davon mit “Little Annie” verbringen würden.
Katalin stellte gleich zu Beginn klar, dass jeder die Wiederbelebungsübungen mitmachen musste, um das Zertifikat zu erhalten. Konnte sie Gedanken lesen? Mein Plan war tatsächlich, mich vor “Little Annie” zu drücken, aber was soll’s – noch lag sie friedlich am Boden, und niemand wollte etwas von ihr.
Ich war mir sicher, dass nach der Mittagspause andere Lerninhalte auf der Agenda stehen würden.
Der Kurs begann:
Wir begannen mit der richtigen Reihenfolge bei der Ersten Hilfe: Sichern, Prüfen, 112 rufen, Lagern, Verbinden, Betreuen und Temperatur regeln. Dazu gab es viele praktische Übungen, bei denen wir uns gegenseitig helfen und üben konnten. Überraschenderweise hatte ich auf einmal viel Spaß daran – und überhaupt war die Stimmung toll. Es wurde viel gelacht und gefeixt.
Dann war es Zeit für die Mittagspause. Ich gönnte mir einen gemütlichen Kaffee und bereitete mich gedanklich auf die Begegnung mit “Little Annie” vor.
Und endlich jetzt war Little Annie am Zug
Nach der Mittagspause war es endlich soweit: Die Herz-Lungen-Wiederbelebung stand auf dem Programm – der große Einsatz von “Little Annie”. Katalin zeigte uns, wie es geht: 30 Mal drücken, zweimal pro Sekunde, 120 Beats pro Minute. Dann einmal Beatmung durch den Mund, nochmals 120 Beats pro Minute und schließlich Beatmung durch die Nase.
Da ich mich nicht vor der Übung drücken konnte, meldete ich mich schnell, und tatsächlich war ich der Zweitschnellste. Zu den Klängen von “Atemlos durch die Nacht” durfte ich die Übung durchführen. Ich war froh, dass Katalin nicht “Highway to Hell” ausgewählt hatte. Und tatsächlich nahm ich den intensiven Duft der Kunststoffe diesmal nicht mehr wirklich wahr. Katalin hatte auch nichts auszusetzen, und ich durfte wieder Platz nehmen. Ich war erleichtert zu wissen, dass der Kurs jetzt eigentlich vorüber war und ich “Little Annie” frühestens in zwei Jahren wiedersehen würde.
Die anderen Teilnehmer waren noch gefühlt eine Stunde mit “Annie” beschäftigt, aber schließlich war es tatsächlich 17.30 Uhr. Der Kurs war zu Ende, und Katalin händigte jedem sein Zertifikat aus.
Also bis dann mal in zwei Jahren. Vielen Dank an Katalin, die einen tollen Job gemacht hatte, und an alle in der Gruppe. So hatte es wirklich Spaß gemacht!
Und Goodbye, “Little Annie”!